Titel
The First Modern Risk. Workplace Accidents and the Origins of European Social States


Autor(en)
Moses, Julia
Reihe
Studies in Legal History
Erschienen
Anzahl Seiten
XVI, 319 S.
Preis
€ 78,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Neumaier, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg / Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Die Risiken einer weltweiten Pandemie hat Covid-19 eindrücklich vor Augen geführt, da Wirtschaftsbeziehungen und Handel zum Erliegen kamen, sich in der Gesellschaft Verunsicherung breitmachte und politische Entscheidungsträger nach Lösungsstrategien für die ökonomischen, sozialen und gesundheitlichen Folgen suchten. Als Julia Moses ihre schlüssig argumentierende und überzeugende Arbeit 2018 vorgelegt hat, war die Corona-Pandemie noch fern. Gleichwohl haben Briten in Umfragen 2015 eine Grippepandemie bereits als zentrales Risiko benannt; gefolgt von Klimawandel, Terroranschlägen, einem flächendeckenden Stromausfall und einem massiven Betriebsunfall. Damit waren die Risiken industrieller Produktion noch immer ein wichtiges gesellschaftspolitisches Thema, wurden aber weder von der Öffentlichkeit noch der Politik an erster Stelle geführt. Das mag zwar in Teilen den in Großbritannien, aber auch in Deutschland und Italien ablaufenden Prozessen der De-Industrialisierung geschuldet sein. Entscheidender scheint jedoch die politische Einhegung von Berufsrisiken gewesen zu sein, die im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzte und den europäischen Sozialstaat entstehen ließ, wie Moses argumentiert. Dieser habe umfassende Vorsorgemaßnahmen etabliert, wenngleich länderspezifische Unterschiede vorlagen, die Moses anhand ihres Dreiländervergleichs zwischen Großbritannien, Deutschland und Italien herausarbeitet.

Insbesondere wird in der Studie gefragt, wie sich der moderne Flächenstaat zwischen dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zum „Manager von Risiken“ entwickelte und welche Bedeutung dabei das Sozialrecht hatte. Moses lehnt einen linearen modernisierungstheoretischen Ansatz ab und möchte vielmehr die Komplexität der Entwicklungen am Beispiel des Arbeitsunfalls aufzeigen. Zu klären ist insbesondere, wie Regierungen soziale Risiken identifizierten und diese anschließend einzuhegen versuchten. Damit benennt Moses gleichsam die Perspektive ihrer Arbeit: Politische Entscheidungen, gesetzliche Bestimmungen und administrative Praktiken stehen im Fokus der Analyse. Daraus sei wiederum, so ihre These, der moderne Sozialstaat hervorgegangen, den sie als europäischen Weg in die „Moderne“ versteht, der gleichwohl jeweils nationale Spezifika aufweise. Im Fazit bündelt Moses die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den drei Nationen und zeigt gerade hier den Erkenntnisgewinn des Dreiländervergleichs eindrücklich auf. Gleichwohl hätte in der Arbeit noch klarer benannt werden können, was unter „industrial modernity“, „modern solutions“, „modern bureaucracy“ oder „modern risk“ (S. 4) zu verstehen ist. Denn es stellt sich die Frage, worin denn die Spezifität der „Moderne“ liegt.

Als zentrales Schlüsselereignis interpretiert Moses die Verschiebung bei der Bewertung von Arbeitsunfällen, die ihren Untersuchungszeitraum von der Zeit um 1800 bis zu den 1920er-Jahren in zwei Abschnitte unterteilt. Während Arbeitsunfälle zunächst als individuelles, privates Risiko der Arbeiter und ihrer Familien eingestuft worden waren, galten sie ab den 1870er-Jahren in den drei Nationen als gesellschaftspolitisches Problem. Infolgedessen sollten Juristen, Wissenschaftler und Statistiker die Unfallursachen und -risiken erforschen. Es verbreitete sich die Erkenntnis, dass Arbeitsunfälle unvermeidlich waren, da es ein inhärentes Berufsrisiko gibt. Damit mussten für die unterschiedlichen Berufe die Unfallursachen bestimmt und zugleich festgelegt werden, wie ihre Folgen abzufedern waren. Die Rahmenbedingungen hierfür legte wiederum der Staat fest. In diesem Prozess sieht Moses letztlich eine zentrale Weichenstellung für moderne (Sozial-)Staatlichkeit in Europa.

Der Vergleich zwischen Großbritannien, Deutschland und Italien ist gerade deswegen so erhellend, weil gezeigt werden kann, wie unterschiedliche Rahmenparameter verschiedene Formen von Sozialstaatlichkeit entstehen ließen. Während Italien und Deutschland erst 1859 und 1871 als Nationalstaaten gegründet wurden, blickte Großbritannien bereits auf eine mehrere Jahrhunderte alte nationale Souveränität zurück. Gemeinsam war wiederum die zeitliche Einführung einer Unfallversicherungsgesetzgebung in den 1880er- und 1890er-Jahren. Allerdings divergierten die nationalstaatlichen Lösungen, weshalb Moses die jeweils spezifischen Verständnisse von „risk, responsibility and statehood“ (S. 10) eingehend analysiert. Sie geht in der Einleitung zunächst auf die unterschiedlichen Verhältnisse von Zentralismus und Föderalismus in den drei Ländern ein und verweist anschließend auf die Spezifika der jeweiligen Rechtsordnungen und Wirtschaftssysteme. Trotz aller Unterschiede entstand ein spezifisch europäischer Lösungsweg im Umgang mit der „Moderne“, der für das 20. Jahrhundert prägend wurde.

Die Arbeit gewinnt gerade dadurch, dass Moses die juristischen Sachverhalte in den Ländern nicht im Detail behandelt, sondern über das Label Risiko die „relationship between states and individuals that is constituted through social policy“ (S. 17) diskutiert. Dabei soll am Umgang mit Risiken die Entstehung des Sozialstaats aufgezeigt werden, bei dem das Verhältnis von Risiko zu Verantwortung neu ausgehandelt werden musste.1 Dies gelingt Moses in sechs dicht geschriebenen inhaltlichen Kapiteln, die durchweg den methodisch anspruchsvollen Dreiländervergleich einlösen.

Zunächst zeigt Moses, wie Arbeit im Sinne der geltenden Vertragsfreiheit als private Angelegenheit gegolten hatte, die frei von staatlicher Regulierung war. Als im Zuge der Industrialisierung die Zahl technischer Unfälle gerade in Industriebetrieben, Minen und bei der Eisenbahn zunahm, entwickelte sich die Unfallvorsorge in den 1870er-Jahren zu einem Feld politischer Regulierung. Im dritten Kapitel diskutiert Moses, wie das Berufsrisiko als gesellschaftliches und politisches Problem identifiziert und wie infolgedessen eine staatliche Regulierung für die Kompensationsleistungen bei Arbeitsunfällen etabliert wurde. An dieser Stelle verweist Moses auf die Unterschiede zwischen den drei Ländern hinsichtlich der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. So wurde in Deutschland nach einer korporatistischen Lösung gesucht, für die unter anderem die Sozialgesetzgebung unter Otto von Bismarck steht. In Großbritannien wurde eine solch weitreichende staatliche Intervention aufgrund der präferierten Laissez-faire-Politik abgelehnt. In Italien wiederum zielten die sozialpolitischen Leistungen auf eine Kombination von Freiwilligkeit und Regulierung. Damit sollten der Wirtschaft ähnlich wie in Großbritannien Freiräume gewährt werden, wodurch sich die italienische Regierung einen ökonomischen Aufschwung erhoffte. Parallel sollte mit losen sozialpolitischen Maßnahmen ein sozialer Frieden etabliert werden, der gleichwohl fragil blieb. Moses bewertet infolgedessen die Entwicklung in Italien als Mittelweg zwischen den beiden Polen Großbritannien und Deutschland. Anschließend geht es um die Frage der praktischen Umsetzung der Unfallentschädigung, deren Lösung die Kapitelüberschrift mit „Spreading Risk, Forging Solidarity“ auf den Punkt bringt.

Die folgenden Abschnitte legen die unterschiedlichen nationalstaatlichen Lösungen für die Unfallentschädigungen dar, die auf spezifischen Vorstellungen zu objektiven Risiken, Verantwortlichkeit und moralischem Fehlverhalten der Versicherungsnehmer basierten. So behandelt das vierte Kapitel Arbeitsunfälle und Kompensationsleistungen, die vor Gericht verhandelt wurden. In den juristischen Auseinandersetzungen wurde diskutiert, inwiefern Arbeiter sich Sozialleistungen erschlichen, indem sie simulierten oder falsche Angaben zu Unfällen machten. Überdies galt es zu klären, was als „Unfall“ eingestuft und ob eine Berufskrankheit als Unfall gewertet wurde. Im Kapitel „Workers, Citizens and the State“ benennt Moses die Ausweitung der gesetzlichen Unfallversicherung in Deutschland und Italien sowie der „workmen’s compensation legislation” (S. 211) in Großbritannien als zentrale Veränderungen, da im Zuge dieser die staatlichen Kompensationsleistungen zugenommen haben, was einen wichtigen Schritt zum modernen Sozialstaat bedeutete. Abschließend arbeitet Moses die Signifikanz des Ersten Weltkriegs heraus, der die Grenzen zwischen Krieg und Arbeit und den damit jeweils verbundenen Risiken verschwimmen ließ. Damit musste der Staat als „Risikomanager“ neue Lösungsstrategien implementieren.

Selbst wenn in jedem der drei Nationalstaaten das berufliche Unfallrisiko an der Wende zum 20. Jahrhundert als soziales Problem identifiziert worden war, schlugen Großbritannien, Deutschland und Italien unterschiedliche Pfade ein. In ihrem Fazit betont Moses, dass Großbritannien mit der „‘workmen’s compensation policy‘ a peculiarly British mode of risk management“ (S. 261) eingeschlagen habe, da hier die Verantwortlichkeit – ganz in der Tradition des Common Law – bei den Arbeitern lag, die durch ihre Beitragszahlungen Versicherungsansprüche erwarben. Demgegenüber sei in Italien und mehr noch in Deutschland die staatliche Intervention mit der Einführung gesetzlicher Unfallversicherungen stärker gewesen. Historiker:innen, die sich mit der Entstehung des Sozialstaats beschäftigen oder sich für die unterschiedlichen Modelle des Sozialstaats interessieren, sei diese Arbeit wärmstens empfohlen. Wer sich hingegen für eine Geschichte der (Industrie-)Arbeit oder technikhistorische Zugriffe interessiert, wird weniger fündig werden. Gerade für die Politik-, Verwaltungs- und Rechtsgeschichte leistet Moses′ Studie jedoch einen wichtigen Beitrag.

Anmerkung:
1 Für die Bedeutung des Umgangs mit Naturkatastrophen im Hinblick auf den Sozial- und Vorsorgestaat vgl. Nicolai Hannig, Kalkulierte Gefahren. Naturkatastrophen und Vorsorge seit 1800, Göttingen 2019.

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